Jeder Mensch ist irgendwann in einer Situation in der er urteilen wird – bewusst oder unbewusst kann sich niemand davon ganz frei sprechen.
Ich gehöre zu den Menschen, die sich ein vorurteilsfreies Leben wünschen würden. Gerade, weil auch wir immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert werden. Doch kann ich mich selber davon überhaupt frei sprechen? Nicht nur das letze Wochenende hat mir gezeigt, dass ich das nicht immer kann, denn auch ich urteile.

Bewusst oder unbewusst urteilen wir ständig. In gewisser Weise ist das natürlich auch gut so. Durch das stetige Beurteilen von Dingen, Situationen und auch Menschen überleben wir. Es ist also auch ein instinktives Verhalten. Auch wenn wir versuchen unsere Kinder vorurteilsfrei zu erziehen, so ist das zu einhundert Prozent überhaupt möglich? Nur wenn Menschen schon im Kindesalter lernen einzuschätzen, lernen sie Gefahren zu erkennen. Ihr Bauchgefühl zu erkennen. Doch hier geht es nicht um Dinge oder Situationen.

Der schmale Grad zwischen beurteilen und verurteilen

Aber wo liegt die Grenze zwischen Einschätzung und Beurteilung?

Am Wochenende sah ich eine Situation – eine Momentaufnahme und impulsiv schossen mir einige Gedanken in den Kopf. Meinem Mann genau so und wir nahmen uns bei der Hand. Mich lies die Situation nicht los und so dachte ich noch länger darüber nach. Ich konnte das Blatt drehen und wenden wie ich wollte, ich hatte eine Einschätzung getroffen von der ich mich nicht frei sprechen konnte – das tat mir leid und doch konnte ich mich nicht von ihr lösen. Ich hatte geurteilt.

Am Wochenende waren wir im Center Parcs in Bispingen. Auf dem Weg vom Schwimmbad zurück in unser Bungalow gingen wir an einem Restaurant vorbei. Eine Familie saß dort und aß. Das Mädchen (sie weinte und krümmte sich, daher ist das Schätzen ihres Alters schwer, aber ich denke irgendwas zwischen 3 und 5 Jahren) war offensichtlich schlecht drauf. Sie bockte und zeigte ihren Unmut mehr als deutlich. Durch die noch nassen Haare vermutete ich, dass sie vor dem Essen schwimmen waren, wie wir. Durch unsere müde Motte an meiner Hand konnte ich mir die Müdigkeit des Mädchens gut vorstellen. Schwimmen ist toll, aber auch anstrengend und müde Kinder haben keine Lust mehr freundlich am Tisch zu sitzen.  Ich sah also dieses nicht leise, aber auch nicht böse, nur müde und quengelige Kind und wir gingen auf das Restaurant zu. Kaum zur Hälfte angelangt sprang der Vater auf, wie von der Tarantel gestochen und brüllte das er nun die Faxen dicke hätte und schmiss(!) sie vor das Restaurant auf die Bank. „Und hier bleibst Du nun, bis Du Dich beruhigt hast“ sagte er, während er wieder hinein ging. Sie war nicht wirklich „draußen“ im Center Parcs ist alles überdacht im Market Dome und darin befindet sich auch unter anderem das Restaurant, aber dieses Kind war ganz deutlich ausgeschlossen.

Wir gingen während das passierte an ihnen vorbei und ich drehte mich nochmal um und fragte meinen Mann, ob der Mann das Mädchen nun echt da hat sitzen lassen. Unser Blick musste das weinende zusammengekauerte Mädchen allein auf der Bank sitzen sehen. Mir tat es in der Seele weh und der Mann nahm meine freie Hand, in der anderen hatte ich meine Motte und drückte sie für einen kleinen Moment etwas fester.

Leider war die Situation so schnell vorüber, dass ich kaum eingreifen konnte. Ich war auch von der Lautstärke und Geschwindigkeit eingeschüchtert und ärgere mich darüber zutiefst.

Ich verurteile den Vater intuitiv. Wie kann man sein kleines Mädchen, welches gerade offensichtlich total überfordert ist mit all den Reizen, mit dem langen Tag an dem sie vermutlich viel erlebt hatten und nach dem anstrengendem Schwimmen, nur so allein da sitzen lassen. Wie kann er denn die Traurigkeit und Hilflosigkeit nicht erkennen? „Wie kann man nur!?!“ schoss mir durch den Kopf.

Aber bei all dem Nachdenken – und ich finde es noch immer indiskutabel und unangebracht sein eigenes Kind allein zu lassen und aus zu schließen – kam mir aber in den Sinn, dass ich ja gar nicht die ganze Situation mitbekommen hatte. Ich weiß nicht ob das Mädchen sich vielleicht schon den ganzen Tag gegen alles widerstrebte und die Eltern nun am Ende ihres Lateins angelangt waren. Sie versuchten hier schließlich einen Urlaub zu machen und diesen mit ihren Kindern zu gestalten. Vielleicht haben sie alles versucht, dass dies ein schöner Tag wird und waren selber einfach nur gefrustet. Müde, kaputt überreizt? Auch die Nerven von Eltern sind endlich.

Mir schoss eine weitere Situation in den Kopf welche ich bei meinem letzten Berlin Besuch beobachtete. Eine Mutter schaukelte aufgeregt und hektisch ihr Kind auf dem Arm. Sie schien gefordert und ungeduldig. Ihre Mutter kam und nahm ihr den Säugling ab. Im ersten Moment dachte ich „so ein kleines Baby so unsanft auf und ab zu wiegen geht doch nicht“, doch als es bei der Oma auf dem Arm war nahm sie ihr auch die Last ab und versuchte die frisch gebackene Mutter mit den Worten zu beruhigen „Mein Kind, ich kann Dich so gut verstehen, mein Herz blutet wenn ich sehe wie sehr Dich dieses Schreikind fordert.“ Ich nahm all meine Gedanken zurück und bewunderte die tolle Großmutter, die unendlich viel Ruhe ausstrahlte und diese unweigerlich auch auf ihre Tochter übertrug. Am Ende der Straße drehte ich mich noch einmal um und strahlte. Die Mutter hatte ihr Baby wieder auf dem Arm. Die kurze Auszeit und das Verständnis der Oma waren wohl in diesem Moment mehr als wohltuend.

Menschen einschätzen – ohne sie zu beurteilen.

Wir sehen in unserem Alltag nur Momentaufnahmen, Segmente einer Situation und kennen weder die Vorgeschichte noch stecken wir in der Haut der Beteiligten. Eigentlich steht es uns nicht zu, zu urteilen und doch können wir uns oft nicht davon frei sprechen. Und doch ist es wichtig mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Situationen falsch zu beurteilen hilft uns dabei zu lernen, Situationen überhaupt wahr zu nehmen.

Kennt Ihr auch solche Situationen? Seit Ihr schon mal eingeschritten oder wie geht Ihr damit um?

 

In diesem Sinne ~ Wahrnehmung entsteht durch Beurteilung nicht durch Verurteilung.