Kein Kind darf ein Kind zweiter Klasse sein. Niemals! 

Als der große Junge vor unserer Tür stand gab es keine Vorbereitungszeit. Es gab nur die Zeit das Herz zu öffnen und zu handeln. Also öffnete ich mein Herz und handelte. Ohne Kurse, große Überlegungen und auch ohne mich mit anderen Pflegeeltern zu vernetzen und aus zu tauschen. Da stand ein Kind vor mir. Ein Kind welches um Hilfe bat. Ein Kind und das war kein Kind zweiter Klasse. Es war ein Kind. Und heute ist es mein Kind – mein Pflegekind.

Meine heutige Gastautorin ist ebenfalls Mutter. Pflegemutter und Adoptivmutter. Und sie erzählt uns, warum keines ihrer Kinder ein Kind zweiter Klasse ist.


 

Kein Kind zweiter Klasse

Warum ich mein Pflegekind genauso liebe, wie wenn es mein eigenes wäre

Ich habe einen Mann und zwei Söhne, die ein und drei Jahre alt sind. Wir sind eine ganz normale Familie mit all den Herausforderungen, die andere Mütter und Väter auch meistern. Was uns unterscheidet, ist die Herkunft unserer Kinder. Unser Großer ist adoptiert, unser Kleiner lebt als Dauerpflegesohn bei uns. Ich schreibe diesen Artikel in Fortsetzung zu Jessicas Post „Die 10 häufigsten Vorurteile und Sprüche gegenüber Pflegeeltern.“ Ich schreibe ihn, weil es mich nervt, immer wieder die gleichen Sprüche zu hören, wenn jemand neu von unserer besonderen Familiensituation erfährt. Und weil ich dir erzählen will, dass es für uns keinen Unterschied macht, wer das Kind neun Monate im Bauch getragen hat. Die Liebe, die wir für unsere Kinder empfinden, ist die Gleiche.

„Das ist aber toll, dass ihr das macht. Ich könnte das ja nicht.“

Seit Jahren hören wir diesen Spruch und verstehen ihn überhaupt nicht. Mein Gegenüber meint also, wir seien besonders soziale Menschen und würden deshalb Kinder „von der Straße“ holen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Sorry, wenn ich diese Illusion zerstöre. Wir konnten selbst keine Kinder bekommen und haben uns deshalb um Adoption und Pflege beworben. Fertig. Sobald wir das erklärt haben, kommt in der Regel sofort die Frage nach alternativen Methoden.

„Habt ihr nicht versucht, per Kinderwunschbehandlung ein Baby zu bekommen?“

Abgesehen davon, dass es die (in der Regel wildfremden) Menschen nichts angeht, ob wir versucht haben, ein Kind via künstlicher Befruchtung zu zeugen, nervt es mich unheimlich, dass dies der angeblich zweitbeste Schritt sein soll, ein Kind zu bekommen. Wieso eigentlich?

Wir kennen einige Paare, die jahrelang viele tausend Euro und sehr viele Nerven in Kinderwunschbehandlungen investiert haben. Mal abgesehen von den enormen gesundheitlichen Belastungen der Hormontherapie für die betroffenen Frauen. Manche der Paare, die wir kennen, waren erfolgreich, manche nicht. Einige haben dem Druck nicht standgehalten und sich schließlich getrennt. Und die, die nach acht, zehn, zwölf erfolglosen Versuchen Anfang 40 kinderlos geblieben sind, trafen wir dann im Seminar für Adoptionsbewerber. Adoption war für diese Paare ein Kompromiss. Wenn man das Kind nicht selbst zeugen kann, dann eben adoptieren. Irgendwie schade, dachte ich, dass ein adoptiertes Kind damit schon von Anfang an nicht einem Selbstgezeugten gleich gestellt war. Für uns kam diese Tour durch die Kinderwunschpraxen nicht in Frage.

„Ich könnte das ja nicht.“

Für mich persönlich stand von Anfang an fest, dass ich nicht unbedingt selbst schwanger gewesen sein muss, um ein Kind zu lieben. Mein Mann sah das genauso, denn er hatte schon in einer früheren Beziehung zwei Kinder großgezogen, die er nicht selbst gezeugt hatte. Die Liebe und Bindung zu diesen Kindern haben ihm gezeigt, dass ihre Herkunft völlig irrelevant für seine Gefühle war. Einige unserer Freunde hatten und haben Probleme, selbst schwanger zu werden. Öfter hören wir dann (meistens vom Mann ), dass sie sich selbst ja gar nicht vorstellen könnten, ein fremdes Kind aufzunehmen. Wenn ich dann nachfrage, warum, kommen Argumente wie …

Wenn ich das höre, werde ich fast wütend und denke, dass der Kinderwunsch des betreffenden Paares nicht so stark sein kann, wenn Halbwissen und Vorurteile so stark in ihren Köpfen verankert sind. Nachdem ich mich dann darüber aufgeregt habe, gebe ich ihnen folgende Gedanken mit auf den Weg:

Wer weiß, ob das Kind gesund ist

Wer ein Kind adoptiert oder zur Pflege angibt, klärt im Vorfeld ganz genau, was er sich und seiner Familie zutraut. Ob eine Erkrankung des Kindes ein Hinderungsgrund ist oder nicht und wenn ja, in welchem Ausmaß. Es gibt jede Menge völlig gesunder Pflege- und Adoptivkinder. Außerdem hat keiner, der selbst schwanger wird, die Garantie auf ein gesundes Kind. Es gibt Erkrankungen, die auch das beste Schwangerschafts-Screening nicht erkennt und auch die Geburt hat ihre Risiken. Wer ein fremdes Kind aufnimmt, weiß alles über das Kind, was das Jugendamt in Erfahrung bringen konnte. In den allermeisten Fällen wurde das Kind ausführlich von Kinderärzten untersucht und man weiß damit relativ genau, was auf einen zukommt. Klar mag es Ausnahmen geben, die zum Zeitpunkt der Adoption/Inpflegenahme noch unklar sind (z.B. bei Alkohol-/Drogenmissbrauch der Mutter), aber in der Regel würde ich sagen, dass Jugendämter in Deutschland zukünftige Pflegeeltern sehr gut über das informieren, was sie erwarten könnte. Mein Fazit: Wer schwanger wird, muss damit rechnen, dass ein eigenes Kind auch behindert auf die Welt kommen könnte oder sogar stirbt. Wer adoptiert oder ein Pflegekind aufnimmt, bekommt ein lebendes Kind, über dessen Gesundheitszustand er/sie vor Aufnahme des Kindes informiert ist. Das ist aus meiner Sicht sogar ein klarer Vorteil.

Ich glaube nicht, dass ich ein fremdes Kind lieben kann.

Ich glaube, man kann ein fremdes Kind genauso lieben, wie man auch den einen Partner lieben kann. Auch, wenn das angenommene Kind nicht die eigenen Grübchen im Gesicht oder eine andere Haar- oder Hautfarbe hat, wird man es dennoch immer mehr lieben, je enger die Bindung zu ihm wird. Ich kann selbstverständlich nur aus unserer persönlichen Erfahrung sprechen, aber ich sehe für diese Befürchtung keinen Grund. Klar kann es ein paar Wochen oder Monate dauern, bis die Bindung zwischen Kind und Eltern gewachsen ist. Zeit, die man bei einer Schwangerschaft automatisch geschenkt bekommt und als Pflegeeltern nun nachträglich braucht. Auch muss mir als Pflegemutter klar sein, dass es für unseren Sohn immer auch seine Herkunftsfamilie geben wird. Egal, was war – er wird sie immer lieben. Was aber nicht heißt, dass unsere Bindung dadurch geschwächt wäre oder er deshalb für mich als Pflegemutter weniger Liebe übrig hätte. Ich bin fest davon überzeugt, dass es für meine Gefühle (Das sind meine Kinder, ich bin ihre Mutter), keinen Unterschied macht, ob sie in mir heranwuchsen, oder nicht.

Ich habe keine Lust darauf, ein weiteres Elternpaar im Leben meines Kindes zu haben.

Dieses Argument ist tatsächlich ernst zu nehmen. Wer sich überhaupt nicht vorstellen kann, dass leibliche Eltern eines aufgenommenen Kindes eine Rolle spielen, für den ist Pflege nichts und selbst Adoption problematisch. Heute empfehlen Jugendämter allen Adoptiv- und Pflegeeltern, offen mit Herkunft des Kindes umzugehen. Während vor 30 Jahren Adoptivkinder oft erst bei der eigenen Hochzeit erfuhren (wenn überhaupt), dass ihre Eltern nicht ihre Eltern sind, wird heute zur sog. „Wickeltisch-Aufklärung“ geraten. Den Kindern also von Baby an ganz selbstverständlich ihre Geschichte zu erzählen. Unsere Sachbearbeiterin des Jugendamts erzählte von ehemaligen Adoptivkindern, die am Boden zerstört waren, als sie erst als Erwachsene von der Adoption erfuhren. Nicht, weil sie adoptiert waren, sondern weil ihre neuen Eltern es ihnen nicht gesagt hatten. Ein Vertrauensbruch, der manchmal nicht mehr wieder gutzumachen ist. Deshalb wissen unsere beiden Kinder über ihre Herkunftsfamilien Bescheid und wir pflegen freiwillig auch zur leiblichen Mutter unseres Adoptivsohnes regelmäßig Kontakt. Kein Geheimnis bedeutet kein Drama. Maximale Offenheit ist für uns der richtige Weg. Für Adoptiv- und Pflegekinder werden die leiblichen Eltern immer eine Rolle spielen. Auch wenn sie nicht verfügbar sind und sie eventuell erst spät von ihnen erfahren. Wer nicht damit leben kann, dass es im Leben seiner Kinder zwei weitere Personen gibt, die für das Kind lebenswichtig waren, der sollte tatsächlich keine fremden Kinder aufnehmen.

Mein persönliches Fazit: Ich bin sehr froh über unseren Weg der Familienplanung und bereue es keinen Tag, dass unsere Kinder nicht selbst gemacht sind. Ich bin froh und dankbar darüber, ihre Mutter sein zu dürfen. Und ich wünsche anderen Paaren, Mut, Interesse und Zuversicht, sich ebenfalls mit dem Thema Adoption und Pflege zu beschäftigen.


 

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Bild&Rechte: Julia

Julia Poetsch lebt mit Mann und ihren beiden Adoptiv- und Pflegesöhnen in Nürnberg. Als Ordnungscoach in ihrem Unternehmen Geliebte Ordnung unterstütz sie Menschen, die gerne ordentlich leben, es aber nicht schaffen.

Auf ihrem Blog Geliebte Ordnung gibt sie kostenlose Ordnungstipps, bald auch ergänzt durch hilfreiche Video-Posts.

Geliebte Ordnung unterstützt Menschen, die sich von überflüssigem Ballas befreien wollen, um strukturierter arbeiten zu können und um leichter zu leben.

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Julia, ich danke Dir für Dein Vertrauen und stimme Dir vollkommen zu: kein Kind ist ein Kind zweiter Klasse. Kein Kind darf ein Kind zweiter Klasse sein. Es sind Kinder. Menschen die ihre Geschichte mitbringen. Aber sie sind nicht zweiter Klasse.

Ich weiß das Ihr das nicht teilt, das ein Pflege- oder Adoptivkind ein Kind zweiter Klasse ist, aber welche Gedanken und vielleicht auch welche Erlebnisse habt Ihr in dem Thema schon machen müssen?

In diesem Sinne ~ kein Kind ist ein Kind zweiter Klasse – es sind einfach Kinder.

 

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